internet-selbstdiagnose „fällt aus wegen iss‘ nicht“
es ist doch „immer wieder lustig“, wie „mensch“ im allgemeinen und
*wartet.auf.ihre.seele* im speziellen „so tickt“.
im laufe der zeit trifft man immer mal wieder leute, die sich bei beschwerden „quer durch‘s internet lesen und dann eine klare diagnose und einen fertigen therapieplan“ mit zum arzt nehmen. ich wusste nie, was ich von diesen vorgehen halten soll - bis vor zehn minuten.
seit ungefähr einem monat habe ich undefinierbare schmerzen, mal hier und mal da im ganzen körper. meine mutter meinte, ich solle bei einem arztbesuch auf eine krankheit ansprechen, die sie seit 50 jahre begleitet.
ich habe gerade mal nach dieser krankheit recherchiert und symptombeschreibungen mit den meinigen verglichen - und dieses vorhaben nach fünf minuten wieder sein lassen.
diese spekulationen sind vor allem dazu angetan, sich selber verrückt zu machen, so meine spontane erkenntnis (wobei bei solchen themen natürlich jeder seinen eigenen weg finden muss). erst einmal brauche ich eine diagnose und dann kann ich weitersehen. (um auch hier spekulationen und ratschlägen am heutigen tage aus dem weg zu gehen, habe ich in meine symtome und die krankheit meiner mutter bewusst nicht näher beschrieben.)
so habe innerhalb kurzer zeit eine meinung zu der internetrecherche entwickelt - weil das thema mich selber betrifft. diese art der entscheidungsfindung hatte ich schon häufiger.
„Ihr seid unglücklich miteinander. …
Ihr müsst Euch Hilfe holen.“ habe ich meiner Nachbarin letzte Woche in einem Gespräch gesagt, in dem ich das Gehörte offen dargelegt habe. Durch das, was ich bald jeden Tag aus ihrer Wohnung höre, bin seit ca. zwei Jahren unfreiwilliger Teil ihres Familienlebens.
Der kleine vier- oder fünfjährige Sohn weint und weint und weint.
Die Situationen, in denen ich ein Elternteil trösten gehört habe, kann ich an einer Hand abzählen. Die einzige von mir vernommene Reaktion sind schroffe Zurechtweisungen durch den Vater. Letztens hat er das Weinen des Kleinen nachgeäfft. (Mir schnürt sich der Hals zu während ich das schreibe.)
Dass die von mir vermutete geistige Behinderung unbedingte Ursache für sein Verhalten ist kann mir niemand erzählen. Unter all‘ den behinderten Kindern, die ich im Laufe der Zeit kennengelernt habe, war keines, dass so oft geweint hat.
Ende 2018 haben die Eltern sich zudem mehrmals in der Woche gestritten. Bei einer Aus-einandersetzung überschlug sich die Stimme der Mutter vor Aufregung, der Kleine war die ganze Zeit dazwischen. Ich habe die Polizei gerufen.
Ein Vierteljahr später habe ich mit dem Kinder- und Jugendnotdienst telefoniert. Es war Wochenende, Beratungsstellen waren geschlossen und ich brauche einen Rat. (Untätig zuhören zu müssen finde ich unerträglich.) Mein Gesprächspartner erklärte mir, dass die Polizei verpflichtet ist das Jugendamt zu informieren, wenn ein Kind in ihren Einsatz in-volviert ist. Er wollte vorsichtshalber auch selber nochmal mit dem Amt sprechen. Um nichts von meinem Eindruck zu verschweigen, habe ich im Anschluss meine Vermutung einer geistigen Behinderung erwähnt. Nach dieser Äußerung schien mein Gesprächs-partner seine Einschätzung zu relativieren. Darüber, was er dann gemacht hat, habe ich natürlich keine Rückmeldung bekommen.
Ich werde diese Woche zum Kindergarten des Jungen gehen. Die Erzieherinnen haben selbstverständlich Schweigepflicht. Mal gucken was ich trotzdem erreichen kann. Auf jeden Fall kann ich auf die Situation aufmerksam machen in der Hoffnung, dass die Er-zieherinnen „ein Auge mehr“ auf den Kleinen haben.
Seit einer Stunde weint er gerade wieder. Was für eine Sch…!
„Liebe Leute, ich habe meinen Vertrag gekündigt. …
Ich danke Euch für
Eurer Respekt,
Euer Vertrauen und
Eure Geduld.“
Mit diesen Worten, aufgehängt an den Pinnwänden der Unterkunft, habe ich mich gestern von „meinen Bewohnern“, 80 geflüchteten Männern „aus aller Welt“, verabschiedet.
In der Stunde, die ich noch in der Unterkunft war, um meine Sachen zu packen, gab es …
- ein Dutzend Umarmungen;
- zwei Mal die Frage „Möchtest Du mitessen? Ich koche gerade.“;
- eine (nicht ganz ernst gemeinte) Diskussion darüber, dass nicht ich sondern der zweite Bewohner in meinem Büro darüber gesprochen hat, was für ein Arschloch mein Hausmeister-Kollege ist (Er ist selber erst drei Jahre im Land und ist, seinen Landsleuten gegenüber, sehr niederträchtig über mich hergezogen.);
- drei Angebote, mir beim Packen zu helfen;
- eine Flasche Sprit mit den Worten „Setzt Dich hin und trinke etwas.“;
- eine Erklärung dazu, was ein Schließfach ist. (Die Vertretungskollegin verbreitet ein unglaubliches Chaos, in dem auch die Bewohnerpost untergeht.);
- die Verteilung meiner selbstgekauften Kaffeebecher (Es gab in meinem Büro ab und an „Kaffeerunden“ mit ein paar Bewohnern.);
- eine Pflaume, im Vorbeigehen überreicht mit den Worten „Die ist für Dich.“;
- eine Bitte, einen kooomplizierten Antrag auszufüllen;
- den Satz „Ich habe Deine Stimme gehört und bin schnell zu Dir gelaufen. Wie geht es Dir?“ (Ich habe die letzten Wochen nicht mehr gearbeitet.);
- zwei besonders fassungslose Gesichter und die Worte „Es ist immer so, die guten, korrekten Menschen gehen und die schlechten bleiben.“;
- ein Lob an mich, eine gute Sozialarbeiterin zu sein und die Ankündigung, sich auf das Containerdach zu stellen und mit Selbstmord zu drohen, sollte ich nicht wiederkommen (Das war natürlich ein Scherz. Ein Neuzugang „hat es geschafft“, innerhalb seiner ersten zwei Wochen zwei Mal auf‘s Dach zu steigen, um ein Einzelzimmer zu erpressen. Ein ziemlich dümmlicher „Superheld“, meinem ersten Eindruck nach zu urteilen.:-) );
- den Bericht eines anderen Bewohners, nach dem der Kollege mich selbst in meiner Abwesenheit und nachdem klar war, dass ich gehe, noch bei meiner Chefin schlecht gemacht hat (Hier fiel zum zweiten Mal an diesem Abend das schöne deutsche Wort „Arschloch“.)
- und einen selbstgemachten „Wrap“ (Fragt mich bitte nicht, wie dieses Gericht in Indien richtig heißt.), den ich mit auf den Weg nach Hause bekommen habe.
So war unser Kontakt. Er war der Grund dafür, weshalb ich das letzte halbe Jahr durch-gehalten habe. Gedanken an Kündigung waren mir bereits im Winter gekommen. Ich habe weitergemacht, bis meine Energie auf dem Nullpunkt war und alles versucht, Verände- rungen zu erreichen, doch die Strukturen in dieser Firma sind so krank, dass sich nichts bewegt hat.
Vielleicht fahre ich die Männer mal am Wochenende besuchen, wenn „das Arschloch“ keinen Dienst hat.